Zu Maos Fehlern ließe sich einiges mehr schreiben, aber dummerweise bin ich Student und befinde mich in meinem Studium gerade in der Situation, einen "großen Sprung nach vorn" machen zu müssen, und kann daher nicht auf alles eingehen. Außerdem möchte ich sehr grundsätzlich bleiben und dennoch einige Mißverständnisse aus dem Weg räumen.
Zuerst mal die Mißverständnisse. Und hier richte ich mich vor allem an Sergej. Was Guido Knopp über China sagt, weiß ich nicht, und es ist für meine Meinungsbildung auch nicht erheblich, was Guido Knopp sagt. Wenn Guido Knopp sagt, daß es heute regnet und es regnet heute wirklich, werde ich deswegen meine Meinung zu dieser Frage kaum ändern. Ich möchte hier aber mal laut bezweifeln, daß die Analyse des Herrn Knopp, die ich nicht kenne, die gleiche sei, wie die meine. Es passiert im allgemeinen Wirrwarr der Meinungen schon mal, daß man durcheinander kommt. Wenn ich nachts an den Himmel sehe, sehe ich Sternbilder. Diese Sternbilder werden konstituiert von meiner Vorstellungskraft, denn es handelt sich hierbei um Körper, die auf keiner gedachten Ebene liegen. Das sieht für uns eben nur so aus. Wechselten wir unseren Standpunkt (sagen wir mal: anderthalb Parsek nach rechts), sähen wir auch ganz andere Sternbilder. Genauso verhält es sich mit den Meinungen. Es ist ganz hilfreich, hin und wieder daran zu denken, daß die Dinge auch eine Tiefe haben. Wir kennen uns jetzt etwa zwei Monate und du dürftest inzwischen wohl gemerkt haben, daß ich mich mit einigem Recht einen selbstständigen Denker nennen kann. Also laß den Guido doch am besten vor der Tür. Dann wirfst du mir Unkenntnis der chinesischen Verhältnisse vor. Aber ganz so uninformiert, wie du mich gerne hättest, bin ich denn doch nicht. Ich verstehe ja, daß du bestimmte Dinge anders sehen mußt als ich, aber vielleicht wirfst du mir zur Abwechslung mal etwas vor, was ich wirklich gesagt habe. Ich habe von "Stagnation des Landes" gesprochen und nicht von "wirtschaftlicher Stagnation". Damit will ich nicht gesagt haben, daß während der Kulturrevolution wirtschaftlich alles glatt lief. Natürlich war die Kulturrevolution ein gewaltiges Hemmnis in der wirtschaftlichen Entwicklung. Ohne sie wäre die Entwicklung besser verlaufen. Aber die Kulturrevolution hat eben gerade in den Überbau und nicht in die Basis eingegriffen. Unter Stagnation des Landes verstehe ich zum Beispiel, daß vier Jahre lang alle Schulen und Universitäten des Landes geschlossen blieben. Es hat noch nie je einen Bürgerkrieg gegeben, in dessen Verlauf das Land eine positive Entwicklung genommen hätte. Es ist wie mit dem Fieber; es ist der Kampf gegen eine Krankheit. Aber der Kampf gegen eine Krankheit ist nicht das gleiche wie die Gesundheit. Und meine Behauptung ist die, daß die Kulturrevolution unnötig war. Sie hat ihre Ziele nicht erreicht und konnte sie auch nicht erreichen. Sie hat jede Menge Schaden angerichtet und mußte diesen auch anrichten. Mao hat zu einem Kampf aufgerufen, den er gar nicht gewinnen konnte. Nicht, daß er nicht hätte gewinnen können, aber diesen Kampf konnte er nicht gewinnen. Nicht den und nicht so! In deiner Widerlegung der von mir nicht gemachten Behauptung gehst du auf die positive wirtschaftliche Entwicklung Chinas zwischen 1966 und 1976 ein. Aber du solltest dabei vielleicht auch erwähnen, daß gerade erst 1965 das wirtschaftliche Niveau des Jahres 1958 wieder hergestellt worden war. Solange hatte China gebraucht, um die aus Maos "Großen Sprung" resultierende Wirtschaftskrise zu verkraften. Es war auch gerade diese Krise, die bewirkte, daß Maos viel Einfluß verlor. Es waren nämlich nicht nur Revisionisten, die sich Mao zum Feind gemacht hatte. (Womit ich nicht Deng und Liu verteidige; auch das mußt du einmal begreifen, daß nicht jeder, der nicht für Mao ist, gleich ein Revisionist ist). Eine Sache ist noch: Ich mache nicht "aus einer Mücke einen Elefanten". Es sind (das haben hier ja alle inzwischen zugegeben) höchst unerfreuliche und keineswegs wünschenswerte Dinge während der Kulturrevolution passiert. Und dies aber nicht als Ausnahme. Es geht hier nicht um Lügen. Ich habe lange Erfahrungen mit den Lügen bürgerlicher Medien. Ich weiß das einzuschätzen. Kenner der menschlichen Seele, der ich bin, kann ich dir versichern: Genau das kommt heraus, wenn man die Jugend des Landes dazu auffordert, sich als Herrscher aufzuspielen. Will hier einer die Behauptung wagen, eine Horde Jugendlicher wisse, was sie tue? Nein? Schön! – Und jetzt wiederhole ich mich einfach mal: Der "Große Vorsitzende" muß wissen, was er tut. Mindestens nach den Erfahrungen der "Hundert-Blumen-Bewegung" hätte Mao wissen müssen, was passiert, wenn man die "Masse" ungebremst schalten und walten läßt. Jetzt bin ich schon unbemerkt in die eigentliche Diskussion gerutscht und breche daher hier ab, um nun geordnet in den Gegenstand zu treten. Es geht mir im folgenden vor allem um Prinzipien, Grundsätze und Methoden. Es ging mir, will ich sagen, nie um etwas anderes.
1. Was sind die Probleme, was die Lösungen? Natürlich enthält jede Bürokratie in sich die Möglichkeit der Entartung. Und natürlich hat Stalin recht mit dem, was er schreibt. Aber zunächst darf man nicht vergessen, daß Stalin immer eine politische Sprache gepflegt hat. Das heißt, daß er, was es sagte, stets mit Rücksicht auf die politischen Verhältnisse aussprach. Man muß also, was er sagte, mit dem, was er tat, vergleichen. Und erst dann ergibt sich das richtige Bild. War die Arbeiter- und Bauerninspektion nicht genau ein Ausdruck der Doppelherrschaft von Behörde und Volk? Wurde sie nicht von Beamten gegen Beamte durchgeführt, und wurde das Volk nicht in angemessener Weise daran beteiligt? Stalin meint, daß eine Bekämpfung der Entartung auch von unten kommen muß. Mao war der Meinung, daß die Bekämpfung nur von unten kommen könne. Das ist ein großer Unterschied. Ich finde Stalins Ansicht irgendwie komplexer, irgendwie der Realität angemessener, irgendwie besser durchdacht eben. Und ich wundere mich etwas darüber, daß hier einige das einseitige Abhandenkommen der Dialektik zwischen "Oben" und "Unten" als konsequente Weiterentwicklung dieser Dialektik feiern. Es ist überhaupt witzig, den Sprachgebrauch der Anhänger der Mao-Kirche zu sehen; "konsequent Weiterentwickeln" heißt bei ihnen offenbar nicht Entwicklung vom Niederen zum Höheren, sondern gerade das Gegenteil. Und nun ist aber jeder, der zu komplex denkt (etwa einer, der sich die politischen Vorgänge als Doppelherrschaft von Oben und Unten vorstellt, also als das, was wir früher den "demokratischen Zentralismus" genannt haben), also ein inkonsequenter, mediokrer Zauderer, der die große Wahrheit nicht begriffen hat, daß nur die Verschärfung der Widersprüche die Entwicklung vorantreibt. Diese "große Wahrheit" hat Mao gepredigt und es ist die reine Schwätzerdialektik. Die Wahrheit liegt nie an den Rändern, sondern immer in der Mitte. Diese Mitte ist aber nicht zu verwechseln mit einem pluralistischen Einerseits-Andererseits. Mao hat aus der großartigen Dialektik von Hegel und Marx ein chinesisches Yin-Yan-Strategem gemacht. Das allein wäre ja einfach nur lächerlich, aber leider hatte es schlimme Auswirkungen auf seine Politik. Spätestens ab der Mitte der Fünfziger Jahre verstand Mao es nicht mehr, die Mitte zu halten. Er beantwortete einen Fehler mit einem anderen (oft mit dem genau entgegengesetzten), was die Lage stets nur zuspitzte. Verheerend war die Vorstellung, daß es gerade die Widersprüche sind, die die Probleme lösen. Um mal etwas philosophische Abhilfe zu verschaffen: Antagonistische Widersprüche können nur in neuen Verhältnissen aufgelöst werden. Sie tragen per negationem zur Weiterentwicklung bei, also, in dem man sie überwindet. Der Widerspruch reizt insofern zur Lösung, daß er die gegebenen Verhältnisse unerträglich macht. Er führt eine Lösung herbei, aber er ist nicht die Lösung! – Ich breche den kurzen Lehrgang ab, bevor hier jemand einschläft und fahre mit dem Thema fort. Gerade der Sozialismus ist in seiner Eigenschaft als Übergangsgesellschaft nun eine Existenzform, die davon lebt, daß in ihr die (vorderhand nicht abschaffbaren) Widersprüche austariert und in eine Ruhe gebracht werden, damit auf dieser Basis Staat und Gesellschaft vervollkommnet werden können. So sehen das zumindest Stalin und ich. Man bedenke, daß Onkel Joe in den Kämpfen des Politbüros zwischen der rechten Fraktion und der linken Fraktion stets die Mitte gehalten hat. Wollen wir darüber nachdenken? Es könnte ja sein, daß Stalin wußte, was er tat.
2. Wozu Kulturrevolution? Es ist hier behauptet worden, die Kulturrevolution wäre lediglich ein Mittel zur Bekämpfung der Bürokratie. Das kann so nicht gesagt werden. Die Kulturrevolution hatte neben diesem defensiven Zweck auch noch einen offensiven: Die Hinführung zum Kommunismus. Die Errichtung der Volkskommunen glich aber mehr einer Neuauflage von Sparta als einer landwirtschaftlichen Produktionsgemeinschaft, die es in China ja vorher bereits gab. Der Grundgedanke der Kulturrevolution ist, daß man mittels starker Veränderung im Überbau einen neue Gesellschaft errichten könne. Der Überbau wird von Mao begriffen als eine Ansammlung alter und überholter Formen, die durch neue ersetzt werden müssen. Diese Überbautheorie ist falsch. In Wahrheit enthält der Überbau allerhand alte, jüngere und neue Formen, die das gemein haben, daß sie der Basis nicht gänzlich widersprechen. Wir leben heute in einem Überbau, dessen Formen eben nicht samt und sonders dem Imperialismus entspringen. Wollen wir Weihnachten abschaffen, weil es ein alter und (schlimm, schlimm!) christlicher Brauch ist? Der Imperialismus breitet sich im Zuge der von Marx beschriebenen Verelendung im Überbau immer weiter aus und zerstört täglich ein Stück von unserer Kultur. Er betreibt also auch eine Art Kulturrevolution. Wir Kommunisten – das ist meine Überzeugung – haben die Pflicht, ihn an dieser Zerstörung zu hindern. Nur die der Basis widersprechenden Formen werden im Prozeß der sozialen Revolution verändert. Und das muß behutsam geschehen. Wir wollen doch nicht das Neue, weil es neu ist; wir wollen das Neue, sofern es besser ist! Das gute Alte mit dem Neuen zu verbinden, auf daß das Neue dem Alten zu neuer Geltung verhelfe und das Alte dem Neuen ein paar Manieren beibringe, das ist die Aufgabe des Sozialismus. Das, was ich mir hier zusammenwürge, ist schon schlagender ausgedrückt worden, und zwar mit dem Wort vom "Kulturellen Erbe". Dieses Wort führten alle guten sozialistischen Politiker im Munde und das ist aber in jeder Phase das Gegenteil von Maos Idee der Ersetzung der "Vier Alten" durch "Vier Neue".
3. Zwei Erklärungen zum Maoismus Anknüpfend an den letzten Gedanken muß festgestellt werden, daß Maos Ideen bis zu einem gewissen Grad entschuldbar sind. Zum ersten nämlich dadurch, daß sie während einer Revolution und während einer Zeit des verschärften Klassenkampfes gedacht wurden. Solche Zeiten haben ihre besonderen Erfordernisse. Das hauptsächliche Erfordernis ist, daß es einen Zweck gibt, der alle anderen überdeckt. Das ist nicht schön, nicht für die Kunst, die Liebe, das Leben, noch für den Geist. Aber notwendig ist es eben. Wozu dienen Revolutionen? Mittels Negation den alten Zustand der Ordnung auf neuer Ebene wieder herzustellen! Die Revolution ist nicht Selbstzweck, sondern notwendiges Übel. Ich persönliches bin für die Revolution, aber nicht, weil sie ein Übel ist, sondern, weil sie notwendig ist. Die Revolution ist also eine Zeit der Not. Man sollte aber vielleicht trotzdem nicht aus der Not eine Tugend machen, oder? Aber genau das hat Mao getan. Und hier ist die Grenze des notwendigen Übels überschritten und wir befinden uns Reich des "Übels um seiner selbst willen". Wenn ich Maos theoretisches und praktisches Dilemma auf den Punkt bringen sollte, würde ich sagen: Er war ein guter Revolutionär, aber er hat diesen Stallgeruch nie ablegen können; er hat nie begriffen, daß zur Leitung der Staatsgeschäfte ein gänzlich anderes Denken erforderlich ist. Und genau hierin unterscheidet er sich im allerhöchsten Maße von Stalin, dem – selbst, wenn man ihm alles absprechen wollte – man zumindest das keinesfalls absprechen kann. Zum zweiten ist es der regionale Charakter, den wir zu beachten haben. Das meint nicht nur die chinesische Tradition, die schon ungewöhnlich genug ist und in der stets der Hang zum Voluntarismus und zur Gleichmacherei lag, den wir auch bei Mao beobachten können. Mit dem "regionalen Charakter" meine ich aber auch die gesellschaftlichen Besonderheiten des jüngeren China. Rußland, als es die Revolution machte, war in seiner Entwicklung weit zurück, aber es war ein imperialistischer Staat und damit war die Grundbedingung zur Errichtung des Sozialismus gegeben. So etwas geht nie ohne Widersprüche ab. China aber war nicht einmal ein imperialistischer Staat, als die Revolution ausbrach. Es wurde kurzerhand ein Epoche übersprungen. Das ist kein Vorwurf, sondern eine Erklärung. Später nannte man Länder, die diesen Weg gingen Schwellenländer. (Leider wurde die Förderung dieses Weges seitens der sozialistischen Industriestaaten noch später wieder eingestellt.) Wie alle anderen Schwellenländer hat auch China das Recht auf seine Besonderheiten. Aber diese Besonderheiten zum allgemeinen Gesetz zu erheben, und vorzuschlagen, diese auch in den anderen Ländern zur Anwendung zu bringen, also wenn das nicht schlicht unmöglich wäre, würde ich dieses Vorhaben vehement bekämpfen. Das ist natürlich ein tautologischer Blödsinn, denn gerade, daß es nicht möglich ist, macht den Vorschlag ja so absurd.
Soweit ich. Meine Anmerkungen sind gedacht zum Verständnis meiner doch etwas zu kompakten Behauptungen oben. Ich habe einen Teil meiner Arbeitszeit heute für das Forum geopfert, weil es mir wichtig ist, daß man sich über Verschiedenes klar wird. Die wichtigste Frage ist in der Beziehung die, wie sehr kommt Maos Denken, seine Methodik in Praxis und Theorie, für uns in Betracht? Ich bin der Meinung, daß der Maoismus keineswegs die folgerichtige Fortsetzung des Leninismus ist, sondern lediglich dessen einseitiges Abhandenkommen, was freilich auf die exakt entgegengesetzte Weise zum chruschtschowschen Weg geschah. Die jüngere Geschichte Chinas ist noch nicht sehr erforscht, da es entweder die Revisionisten oder die Ultravisionisten sind, die darüber schreiben. Ich zitiere mal Ulrich Huar, der es sehr schön auf den Punkt gebracht hat: "In der VR China verfiel Mao Zedong Ende der 50er Jahre einem linksextremistischen Revolutionarismus. Die "große proletarische Kulturrevolution" richtete beträchtlichen Schaden an und kostete die Partei viele wertvolle Kader. Inwieweit es sich dabei um einen "Reflex" auf den Revisionismus Chruschtschows und dessen Bruch mit der VR China gehandelt hat, bedarf weiterer Untersuchungen. Die antileninistische Politik Chruschtschows hatte negative Auswirkungen nicht nur auf das Verhältnis zu China, sondern auch auf andere kommunistische Parteien Asiens, führte zur Spaltung der kommunistischen Weltbewegung und zur Aufgabe des Prinzips des proletarischen Internationalismus." Vor allem die Frage, ob Maos Verfehlungen ein "Reflex" auf Chruschtschow sind, oder ob sie schon in seinem eigenen Denken von vor 1956 weitgehend angelegt sind, ist hierbei interessant.
_________________ Der Hunsch wars!
|