Hi Graffik, zu Prag fällt mir ein, dass die Reformen des Dubcek nicht nur politischen, sondern auch wirtschaftlichen Charakter hatten. Ich weis nicht wie weit sie gingen, aber nach dem was ich gehört habe, waren da einige radikale Dinge in dem Reformpaket, die den Sozialismus entstellt hätten. Quasi wie es in China geschah. Der politische Aspekt ist aber auch nicht zu unterschätzen. Was wenn die neue "Freiheit" in der CSSR zu ihrem Austritt aus dem Östlichen Verteidigungsbündnis oder gar zu einer völligen politischen Abkehr zu den RGW Staaten geführt hätte? Das konnte sich die Sowjetunion nicht leisten. In Yugoslawien war so etwas ähnliches schon einmal geschehen und das war schon schlimm genug. (Und die Tschechoslowakei hatte eine noch viel zentralere geographische Lage in Europa als Yugoslawien.) Ich finde, dass Dubcek auf jeden fall abgesetzt werden musste, er war ein politisches Risiko. Mehr fällt mir dazu nicht ein, weil ich mich auch nicht so gut mit dem Thema auskenne, aber du solltest dich auf jeden Fall ein bisschen in die Faktenlage reinlesen. Achja und falls der bürgerliche Geschichtsunterricht versucht, wegen dieser geschichtlichen Episode wieder mit dem Zeigefinger auf die DDR zu zeigen: Die DDR hat definitiv nicht mit Panzern oder Soldaten dazu beigetragen die Tschechoslowakische Regierung zu stürzen, wer das Gegenteil behauptet ist desinformiert oder lügt einfach.
So viel zu Prag, aber in deiner Frage schwang noch etwas anderes mit: Die Frage, warum im Osten die bürgerlichen Freiheiten nicht so ausgeprägt waren wie sie es heute nach der "Wende" sind. Im Sozialismus herrscht Diktatur, das heißt die Herrschaft eines einzelnen Führers oder einer kleinen Clique. Das ist so, weil eine demokratische Ordnung dazu führen würde, dass das Volk katastrophale Fehlentscheidungen treffen würde. (Im Kapitalismus kann Demokratie herrschen, weil die Wirtschaft sowieso außerhalb der Politik steht, in diesem maßgeblichsten aller Bereiche kann das Volk also keinen Schaden anrichten. Andere wichtige Bereiche, wie Außenpolitik u.a. werden auf geschickte Weise ebenfalls von der Einflussnahme des Volkes abgekoppelt). Wenn dir das arrogant vor kommt, dann bedenke dass diese Demokratiefeindlichkeit nichts mit der Verachtung des Volkes zu tun hat. Versuche einfach dir vorzustellen es gäbe beispielsweise eine Wahl, bei der entschieden wird ob eine bestimmte Fabrik oder gar ein Kraftwerk irgendwo gebaut werden soll. Das Volk würde in nahezu allen Fällen gegen eine Investition stimmen. Umweltschützer würden unsere Fabrik ablehnen, weil Bäume gefällt werden, Anwohner würden wegen eventueller Lärmbelastung ihr Veto einlegen, Andere würden die Ausgaben, die zum Bau der Fabrik nötig sind für zu hoch halten und da so eine Fabrik ja niemanden speziell gehört und diese womöglich nicht einmal Dinge herstellt, die man als Bürger im allgemeinen selbst verbraucht (vielleicht werden Bauteile für Maschinen, Waffen oder Exportgüter hergestellt), würde die Akzeptanz des Projektes zusätzlich geschwächt sein. Für Populisten wird es immer leicht sein gegen etwas zu Polemisieren, das sieht man derzeit auch an der allgemeinen Ablehnung der Atomkraft oder auch an den Protesten gegen den Bahnhof in Stuttgart. Es ist also die Verwobenheit von Politik und Wirtschaft im Sozialismus, die die Ausschaltung des Volkswillens nötig macht. Oder anders gesagt: Im Sozialismus gibt es keine Wahlen und damit verbundenen politische Freiheiten, weil die Politiker eben keine überflüssigen Hampelmänner sind, sondern Leute mit richtiger Macht. Weitere Totschlagargumente gegen Demokratie: Die Ereignisse von 1989 und last but not least die Tatsache, dass 1933 44% der Stimmen an Hitler und weitere 9% an andere Rechtsaußenparteien gegangen sind. Wenn es aber keine Wahlen gibt, dann muss der Herrscher jedoch auch recht fest im Sattel sitzen können. Ein Herrscher bleibt nur an der Macht, wenn er einen Ideologieapparat hat, der vereinfachte Weltbilder und gewisse Lügen unter die Leute bringt. So können Widersprüche überdeckt werden, die sonst zu einem Sturz des Herrschers führen könnten. Damit das funktioniert, sollte der Ideologieapparat aber auch vor konkurrierenden Ideologien geschützt sein. Vor allem diejenigen Kritiker sind gefährlich, deren Argumente zwar nicht besonders Klug, dafür aber besonders Massentauglich sind. Es kann also auch keine vollständige Meinungsfreiheit im Sozialismus geben. Der Ideologieapparat selbst wiederum muss auch alle Bürger erreichen können, daher ist es sein Wesen, den Menschen mit einer gewissen Allgegenwärtigkeit auf die Nerven zu gehen. Wahrheiten wie Lügen werden nur geglaubt, wenn sie wiederholt werden und werden und insbesondere dann geglaubt wenn sie von allen Seiten kommen. Diese Herrschaftsmethoden sind keine Verbrechen, sie existieren in jedem Staat, auch in der heutigen Slowakei, auch im heutigen Tschechien, auch in der heutigen BRD. Versuchst du in deinem Politik-Unterricht beispielsweise diesen Post zu veröffentlichen - er wird negativ vom Lehrer aufgenommen werden, denn der Politikunterricht ist ein Element des bundesrepublikanischen Ideologieapparats (hier soll der Apparat dem Staat und dem Erhalt der demokratischen Staatsform dienen, im Sozialismus dient er dem Staat und dem Erhalt diktatorischen Staatsform). Wenn du Schüler bist und nichts mit Politik am Hut haben willst, kommst du auch nicht an diesem Unterricht vorbei und die erzählen dir dort einen Müll, der mindestens genauso blöd und nervig ist, wie die Propaganda, die die Menschen im Osten erleiden mussten. (Ähnlich nervig: die alljährlichen Spektakel zur Wiedervereinigung Deutschlands, die 68er verherrlichung in den Medien und die Reden des Bundespräsidenten) Versucht man im Fernsehen oder in einer großen Zeitung einen klaren kommunistischen Gedanken zu äußern, man wird niedergebrüllt (nicht dass es schon viele versucht hätten, aber ich denke das ist auch ohne konkretes Beispiel leicht vorstellbar). Zensur und Beschränkung von Meinungsfreiheit funktionieren auf vielen Wegen. Die Reisefreiheit war eingeschränkt aus Angst man könne im Westen bleiben und als Arbeitskraft verloren gehen. Dies ist schlimm, wenn der Republikflüchtling eine aufwendig ausgebildete Fachkraft ist. Vor dem Mauerbau hatte der Westen viele dieser Fachkräfte gezielt abgeworben daher diese Angst. Die Stasi war bei Reisen in den Westen sowieso unabdingbar, denn Spionage war damals eine ziemlich verbreitete Sache und jeder, der ins Ausland geht könnte ja in Kontakt mit Agenten gekommen sein (es wurden teilweise sogar Menschen ohne ihr wissen in Geheimdienstcoups mit einbezogen). Umgekehrt war es sicherlich auch so, dass Menschen, die aus dem Westen in die DDR gingen, vom westlichen Geheimdienst überwacht wurden. Der Unterschied ist: Im Westen sind diese Herrschaftsmethoden nicht so Ausgeprägt wie sie es im Osten waren. Man darf heute im Allgemeinen ins Ausland reisen, auch in diejenigen Länder, die unserem Staat politisch ein Dorn im Auge sind. Man darf hier jegliche Firma und jeglichen Politiker nach belieben kritisieren oder karikieren bis man sich selbst lächerlich gemacht hat. Und man kann sich Nachrichten und Informationen von beliebiger Seite verschaffen (wenngleich das Internet sicherlich teilweise geheimdienstlich überwacht wird) Man nennt diese Freiheiten des Westens Bürgerrechte. Es wird heute jedoch gerne verschwiegen, dass die Bürgerrechte sich in der BRD auch erst in den letzten 30 Jahren so entfaltet haben wie sie es heute sind. Außerdem wird gerne Behauptet, es hätte im Osten gar keine Bürgerrechte gegeben, was nicht wahr ist. Die Bürgerrechte waren im Osten lediglich weniger stark ausgeprägt. Meiner Einschätzung nach hat das folgende Gründe: 1. die Situation war eine politisch angespannte. Die vielen Geheimdienst- und Propagandaattacken des Westens mussten bekämpft werden und bei dieser Verteidigung dürfen die Bürgerrechte nicht im Weg stehen. Was nützt ein Staat mit vielen Bürgerlichen Freiheiten, wenn dieser Staat vom Feind übernommen wird? Bei der Gegenspionage ging es im Übrigen nicht nur um den Schutz des Staates an sich, sondern auch um den Schutz der Bevölkerung vor Terroranschlägen. 2. Die sozialistischen Staaten des RGW entstanden auf Initiative der Sowjetunion und waren politisch und wirtschaftlich von ihr abhängig, sodass die Sowjetunion einen gewissen Einfluss auf den Charakter dieser Staaten hatte. Die Sowjetunion selbst war jedoch kulturell vor allem Osteuropäisch und Russisch. Ich möchte an dieser Stelle einmal diese These wagen, dass in diesem Kulturkreis die Bürgerrechte keine so ausgeprägte Tradition hatten wie in Westeuropa und Amerika und die sowjetischen Traditionen wurden dann auf Tschechien und Ostdeutschland etc. übertragen. 3. Die Undemokratische Herrschaftsform begünstigt die Bürgerrechte nicht. (siehe oben)
Es mag sein, dass ein Sozialismus mit mehr Bürgerrechten besser ist als einer mit wenigeren, aber diese Frage ist nebensächlich. Fehlende politische Freiheiten haben jedenfalls nicht zum Ende des Sozialismus beigetragen. Der Sozialismus muss produktiv sein, er muss stabil sein und er muss den Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit unterbinden. Erst wenn diese Dinge hinhauen kann man sich Gedanken machen über Bürgerrechte und andere Ausfeilungen des Staatssystems.
Ich hoffe du kannst aus meiner Antwort etwas gewinnen. Und hab viel Spaß auf deiner Klassenfahrt!
_________________ "Und ich lernte, wieso und weswegen Da ein Riß ist durch die Welt! Und der bleibt zwischen uns, weil der Regen Von oben nach unten fällt." - B.B.
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